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Diese biografischen Stichpunkte wurden von meiner Mutter im Rahmen einer grenzüberschreitenden Aktion geschrieben, die helfen sollte, verschiedene Biografien von Frauen aus dem deutschen und böhmischen Teilen des Erzgebirges der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Hannchen Löser geb. Püschel am 18.11.1921 in Cunersdorf Erzgebirge

Stichpunkte aus meinem Leben

Neudorf, Dezember 2000

Wer bald das 80. Lebensjahr erreicht, kann wahrlich viel erzählen, viel schreiben, aber das wollen offenbar nur wenige ältere Menschen. Ich will es aber ein wenig versuchen.

Als ich 1921 geboren wurde, herrschte die Weimarer Republik, eine bürgerlich-demokratische Regierung. Von ihren 421 Abgeordneten waren 236 bürgerlich, und 185 kamen aus der Arbeiterklasse. Leider blieben bürgerlich-demokratische Grundsätze und Rechtsnormen der Weimarer Verfassung in der Regel formal und ohne wesentliche materielle Hilfe für das arbeitende Volk. Das habe ich allerdings erst viel später mit 35 Jahren gehört und gelernt, und zwar im Fach Gesellschaftswissenschaft beim Fernstudium für Kindergärtnerinnen. Trotzdem wurden mir schon viel früher die Augen geöffnet, und an Leib und Seele habe ich mitbekommen, wo ich hingehörte.

Das begann schon zu Beginn meiner Schulzeit 1928. Mein Vater war ein Arbeiter, ein gelernter Kupferschmied und Schweißer bei der Fa. Rassmussen in Scharfenstein und Zschopau. Vorher, als Geselle auf der Wanderschaft, hatte er sich in Kiel auf der Werft politisch organisiert. Die SPD mit ihren Zielen hatte es ihm angetan, er blieb ihr treu bis zu seinem Tod (während der Nazizeit ist das Heil Hitler nicht ein einziges Mal über seine Lippen gekommen, und im Sozialismus wurde er kurz nach der Vereinigung von SPD und KPD von der SED ausgeschlossen, weil er gesagt hatte: Stalin ist nicht viel besser als Hitler. Aber zunächst zurück zum Jahr 1928.

Wir waren drei Geschwister. Mein Bruder war ein Jahr älter als ich, meine Schwester wurde im Jahr 1928 geboren. Unser Vater wurde arbeitslos. Unsere Wohnung bestand aus einer kleinen Wohnküche und einer größeren Kammer, in der drei Betten, ein Kinderbett und ein Schrank Platz hatten. Ich beneidete meinen Bruder, er hatte ein eigenes Bett mit einem Strohsack als Matratze, die kleine Schwester ein schönes weißes Kinderbett. Ich schlief bei meinen Eltern in den Ehebetten mit, oft hüben oder drüben, manches Mal auch in der Mitte, wenn sich meine Eltern gestritten hatten.

Unsere Mutter gab sich die größte Mühe, uns Kinder stets sauber und ordentlich zu kleiden. Trotzdem mussten mein Bruder und ich oft getragene Kleidung und Schuhe von unseren wohlhabenden Berliner Verwandten tragen. Da habe ich mich immer geschämt. In unserer Nachbarschaft gab es ein großes Bauerngut. Dort half meine Mutter regelmäßig bei Erntearbeiten. Mein Bruder musste Kühe hüten, und ich ging gerne mit. An die Spiele am Feldrand (mit Steinen als Baumaterial und Blumen, Ästen und Pflanzen) erinnere ich mich noch heute gerne, aber auch an die Kälte und Langeweile, weil wir erst um 18 Uhr beim Sechseläuten eintreiben durften. Wie oft haben wir gemeinsam als voller Kehle mehr geschrieen als gesungen: Holei, holei, treim mr se noch net ball ei, is ward schie ball im Sechse sei... Eija, Eija, dos is schie wahr...
Als die Bauerntöchter Kinder bekamen, wurde ich Kindermädchen. Gleich nach der Schule ging ich zu den Kindern, und ich wurde ziemlich schnell selbständig. Ich fuhr die Kinder, Werner und Christa, nicht nur aus, ich fütterte sie, wickelte sie, lernte ihnen laufen, sprechen, sogar singen. - Aber, wenn ich abends nach Hause kam, musste ich wohl oder übel doch noch Schularbeiten machen. Wie oft habe ich, wenn wir einen Aufsatz schreiben sollten, zu meiner Mutter gesagt: Sag mir nur den Anfang, dann wird mir schon was einfallen. Dementsprechend waren die Zensuren. Nur im Sport und in Religion hatte ich sehr gute Noten. Oder war ich ein Spätentwickler? Von Jahr zu Jahr wurde ich in der Schule besser, allerdings typisch in meiner Schulzeit waren auch die unterschiedlichen Behandlungen der Kinder durch die Lehrer. Selbst der christliche Kantor, der vier Jahre unser Klassenleiter war, hatte selten ein Lächeln für die Armen in der Klasse übrig, zu denen auch ich gehörte - aber (oh Wunder), in der vierten Klasse kam er nach dem Morgengebet auf mich zu und sagte: Die Püschel-Hannchen singt heute mal allein das Morgenlied, und zwar... Und ein überglückliches Kind sang sicher so rein und rührend. Was frag ich viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin, gibt Gott mir nur ein gesundes Blut, dann hab ich frohen Sinn und sing mit dankbarem Gemüt, meine Morgen und mein Abendlied. (Das traf haargenau die Kinder, die man auch brauchte). Der Herr Kantor aber sagte für mich, das, was ich hören wollte, wonach ich mich oft gesehnt habe: Ab Sonntag gehörst du zum Kinderkirchenchor. -

Ob von da an verstärkt ein Interesse für den christlichen Glauben geweckt und gefördert wurde, weiß ich nicht. Auf alle Fälle wurde zu Hause nur zum Heiligen Abend gebetet. Natürlich gingen wir, wie so viele, getretene Wege, wir Kinder wurden getauft, konfirmiert, heirateten christlich und im nachhinein denke ich, dass ich mir, allerdings nur als Kind, die größte Mühe gegeben habe, ein guter Christ zu sein. Im späteren Leben gab es ganz andere Erfahrungen für mich, die Christen waren gar nicht alle so gut und rein wie sie taten, und ich habe an meinen Vater gedacht, der immer sagte: Es ist ganz gleich, zu wem ihr euch hingezogen fühlt und welcher Klasse ihr angehört, die Hauptsache ist, der Mensch bleibt ein Mensch - er muss menschlich denken, fühlen und handeln! Und die Großmutter sagte es so: Ach, Hannchen, es gibt überall Solche und Solche (ha, ha, ha).

Hier noch ein Beispiel aus der Schulzeit 1931/32. Wie schon erwähnt, ich war ein bewegungsfreudiges Kind, der Sport spielte in meinen Leben stets eine große Rolle. Unser Sportlehrer war ein zackiger SA-Mann. Er gab aber guten Unterricht, vor allem bei den Mädchen unterstützte er durch das Klavierspielen die rhythmischen Bewegungen einfach hervorragend. Die besten Mädchen durften in eine extra Gymnastikgruppe zweimal wöchentlich gehen. Sie wurden für öffentliche Aufführungen geschult, sie tanzten und bewegten sich zu verschiedenen Kinderliedern, ich erinnere mich noch heute an die Bewegungen zu hop, hop, hop, Pferdchen lauf Galopp..., weil ich zu Hause, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, sie allzu oft gesungen und getanzt habe, denn zu dieser Gruppe gehörte ich leider nicht - auch beim Schwimmunterricht gehörte ich nicht zu den Auserwählten, die das Schwimmen gelehrt bekamen, und im Winter fuhr der gleiche Lehrer mit den gleichen Kindern im Sportunterricht mit langen Schneeschuhen durch die Winterlandschaft, und 8 Kinder, darunter ich, zogen ihre Schlitten und rodelten einstweilen.

1933 kam die Nazizeit (wir in der 5. Klasse), eine verrückte Zeit. Viele Kommunisten wurden verhaftet, auch einige Sozialdemokraten, die meisten aber wurden in Annaberg (im Schützenhaus) nur verhört, einige standhafte Genossen wurden auch geschlagen, der Großteil kam wieder nach Hause. Mit Auflagen, versteht sich. Vier Männer aber sahen ihre Heimat erst 1945 wieder, zwei andere waren im KZ gestorben. Im nachhinein erscheint mir die Entwicklung in den Jahren 1933 bis 1936, als ich aus der Schule kam, wie ein kleines Wunder. Die große Arbeitslosigkeit nahm rapide ab, die Männer bekamen alle Arbeit, wenige nur rebellierten, auch wenn man kurz zuvor gesagt hatte: Wer Hitler wählt, wählt den Krieg. Die größte soziale Not wurde gelindert, es gab zum Beispiel ein Winterhilfswerk, die Männer mussten durchweg auf fremde Arbeit, Autobahn, Westwall und dergleichen. Mein Vater übernahm eine kleine Kupferschmiederei von seinem Bruder, der nach Bremen auf die Werft ging. Als Handwerksmeisters Kinder spürten auch wir, dass es auch bei uns langsam bergauf ging. Berufswünsche gab es zu dieser Zeit 1936 wenige für Mädchen, viele gingen gleich in die Fabrik, ein großer Teil aus meiner Klasse ging weiter zur Schule, zur Vollklasse der Berufsschule ein Jahr lang. Ich entschied mich für das Pflichtjahr bei einer kinderreichen Familie, weil man dann nicht zum weiblichen Arbeitsdienst musste. Ich absolvierte also mein Pflichtjahr bei einem Bäcker in Buchholz, jeden Tag gab es das gleiche zu tun. Wenn ich um 7 Uhr vom Zug kam, stand ein kleiner Handwagen bereit, mit frischen Semmeln und übriggebliebenem Kuchen beladen. Den Wagen zog ich bei Wind und Wetter, im Sommer wie im Winter nach Frohnau ins Altersheim. Etwas Gutes hatte meine sonderbare Aufgabe: Es war ein gesunder Morgenspaziergang, und, die alten Leute liebten mich förmlich, denn sie bekamen von mir Kuchen geschenkt. Dann hatte ich vormittags einen großen Abwasch zu bewältigen, und das tägliche Saubermachen der vielen Zimmer. Am Nachmittag saß ich über einen großen Berg von Strümpfen, die gestopft werden mussten, denn die Bäckerleute waren kinderreich, sie waren auch dahinter gekommen, dass ich gut handarbeiten konnte. Wie viele Taschentücher ich da umhäkelt habe, weiß ich nicht, aber an die vier großen Kissen mit Hardanger Stickerei kann ich mich noch gut erinnern. Dabei durfte ich immer das Radio einstellen, zur Olympiade 1936 habe ich alles verfolgt, wo hätte ich das sonst gekonnt?

Zu Weihnachten 1936 bekam ich die ersten Schneeschuhe, und ich konnte bis 1939 mit meinem Bruder an den Winterwochenenden immer mit der Bimmelbahn nach Oberwiesenthal fahren und den ganzen Tag Schilaufen. Mittags konnten wir in der Jugendherberge für 25 Pfennige essen, wir waren satt - trotzdem kochte unsere gute Muttl uns am Abend noch das Sonntagsessen.

Sonderbarerweise gab es in meiner Jugend bis zu Beginn des Krieges für mich viele gute Jahre, denn mein Vater, der die Gefahr der Nazizeit erkannte, ließ mich dennoch in die Jugendorganisation BDM gehen, weil er meinte, Jugend gehört zur Jugend, was kannst du dafür, dass jetzt gerade die Nazis an der Macht sind. Ich wurde Sportwartin beim BDM, zu den vielen Lehrgängen (ich war z. B. einmal vier Wochen lang in Bärringen (Pernink) zum Schilehrgang, sechs Wochen im Riesengebirge zur Schule für Gymnastik, Geräteturnen und Leichtathletik und Erwerbung des goldenen Sportabzeichens). Ich wurde stets ohne Probleme freigestellt, damals arbeitete ich im Textilwerk Cranzahl. Ich leitete zu dieser Zeit die Kindergruppen des Turnvereins, somit bekam ich zu meinem ehemaligen Sportlehrer eine bessere Einstellung, und er auch zu mir. Ich kostete seine Erfahrung im Mädchen- und Frauensport richtig aus, und er brachte uns zu guten Leistungen in Gymnastik und Tanz, Geräteturnen und Leichtathletik.

Zu Beginn des II. Weltkrieges 1939 wurde in Cranzahl ein Kindergarten eröffnet (man brauchte Frauen in der Kriegsproduktion). Der Bürgermeister K. schlug mich als Leiterin dieser Einrichtung vor. Nach ½-jährigem Auswahllehrgang an der Gauschule Heidelberg in Radebeul übernahm ich die kleine Einrichtung mit etwa 30 Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren. Als Helferinnen bekam ich junge Mädchen aus dem weiblichen Arbeitsdienstlager im Turnerheim. Die Kinder spielten Krieg, sie reflektierten ihre Umwelt und Erlebnisse aus ihrem Alltag. Zu dieser Zeit 1939 meldete sich mein Bruder freiwillig zu den Gebirgsjägern nach Mittenwald, er wollte in den Alpen im Winter Schilaufen, das allerdings war ein Irrtum. Die Ausbildung war hart und danach kam er bald zum Einsatz an die Front.




Zu Hause hörte mein Vater heimlich abends BBC-Nachrichten aus London, oft mit ehemals zuverlässigen alten Genossen, ich ging derweilen die Dorfstraße auf und ab, um eventuelle Mithörer abzufangen. Der damaligen Wochenschau glauben wir nichts mehr. Wir wussten über die Vernichtung der Juden Bescheid, über die grausamen Morde an der russischen Bevölkerung und von der unmenschlichen Behandlung der Kriegsgefangenen in Ost und West. Langsam wurde mir bewusst, was das Naziregime wirklich bedeutete, da konnte man nicht mehr bloß an Sport und Freizeit denken. Trotzdem wurde ich den Wunsch, Sportlehrerin zu werden, nicht los, und ich fuhr 1942 nach Berlin ins Ostfriesenhaus am Olympiastadion zum achtwöchigen Auswahllehrgang. Außer im Schwimmen hatte ich alles geschafft, da kam gegen Ende des Lehrgangs von zu Hause die Telefonnachricht - der Helmut (mein Bruder) ist im Kaukasus gefallen, komme sofort nach Hause.

Zu Hause Trauer. Der Vater lag auf dem Sofa, er hatte den Fuß angebrochen. Unser Hausarzt Dr. L. meinte, er käme kommende Woche in den Kindergarten, um die Kinder zu untersuchen. Ich erklärte ihm, dass ich nicht mehr Kindergärtnerin bin, mir Arbeit suchen müsste. Da gab’s nur eins, fort in die Kriegsproduktion. So nahm er mich als Sprechstundenhelferin. Mein neuer Chef, der Doktor, war ein großer Antifaschist, ein Kommunist, er behandelte Kriegsgefangene und ausländische Arbeiter besonders verständnis- und liebevoll. In der Nähe seiner Praxis gab es ein Lager, in dem russische Frauen untergebracht waren. Er schickte mich oft dorthin, um gewissen Patientinnen etwas Nahrung zu bringen. Wie oft haben sie meinen Mantelsaum geküsst.

Nun im Telegrammstil:

1944 im Januar heiratete ich Helmut Löser, aus Neudorf, er hatte Tischler gelernt und war zu dieser Zeit Wachtmeister bei der Wehrmacht. Im November wurde unser erstes Kind Heike geboren.

Obwohl mein Mann von Anfang an bis zur letzten Minute an vorderster Front am Krieg teilgenommen hat, kam er pünktlich am 8. Mai 1945 um 8 Uhr zu Hause an. Schon eine Woche später entschied er sich für eine Umschulung als Kupferschmied und Heizungsmonteur, und zwar bei der Fa. Püschel, bei meinem Vater. Im Februar 1947 wird unser zweites Kind Helmut geboren. Und am 14. Mai 1950 das dritte Kind, Reinhard.

Drei Kinder, eine kleine Wohnung, wenig Geld. Nachkriegszeit - Kommentar überflüssig.

1952 fange ich im Sehmaer Kindergarten als Helferin an zu arbeiten,
1953 Qualifikation als Erziehungshelferin,
1954 Versetzung nach Neudorf, Einrichtung und Eröffnung eines Kindergartens (ehemalige Klöppelschule) mit 3 Gruppen,
1955-57 zwei Jahre Fernstudium mit Abschluss des Staatsexamens für Kindergärtnerinnen,

1971 im Januar musste der Kindergarten erweitert werden. In der ehemaligen Oberen Schule wurde im NAW (Nationales Aufbauwerk) ein Kindergarten mit 100 Plätzen (5 Gruppen) geschaffen.

Nach dem sinnlosen und verheerenden 2. Weltkrieg (28 Millionen Tote gab es allein in Russland) empfand ich große Sympathie für die linksgerichteten Parteien SPD und KPD, später SED, weil sie auf ihre Fahnen "Nie wieder Krieg" geschrieben hatten. Und im Fernstudium begriff ich genau, was den Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus ausmacht. Wie recht hatten die Klassiker Marx und Engels, sage ich heute noch. Ich erfuhr und verstand auch gut, warum große Geister, das heißt, antifaschistische Künstler und Intellektuelle, nach ihrer Emigration oder zum Teil nach schlimmer KZ-Folter nicht in Adenauers Westdeutschland zurückkehrten, wo ehemalige Nazirichter und Beamte wieder zu Rang und Würde kamen, sondern in die junge DDR, die die Hitlerbarbarei eindeutig verurteilte. Persönlichkeiten wie Anna Seghers, Bert Brecht, Helene Weigel, Walter und Charlotte Janka, Friedrich Wolf oder Arnold Zweig setzten große Hoffnung auf eine demokratische Alternative des Arbeiter- und Bauernstaates. Dass es später auch zu stalinistischen Prozessen, z. B. gegen den unschuldigen Kommunisten Walter Janka kam, waren herbe Enttäuschungen über bornierte Ideologieentscheidungen, gerade auch in der SED-Kulturpolitik (wie z. B. Biermanns Ausbürgerung, oder auch die Attacken gegen Christa Wolf beim Nachdenken über Christa T.). Das aber ist ein anderes Kapitel.

In unserer Familie gab es zu DDR-Zeiten keine großen Probleme. Unsere Kinder gingen bis zu den Klassen 10, 11, 12 in die Schule, besuchten zuvor den Kindergarten, ich konnte 30 Jahre lang meinen idealen Beruf nachgehen - doch ohne unsere liebe, aufopferungsvolle Oma wäre das alles nicht so gut gegangen, denn sie war immer für unsere drei Kinder da, keines musste den Wohnungsschlüssel um den Hals hängen. Mein Mann aber hatte sich einen schweren Bandscheibenschaden beim Setzen einer Hauswasserpumpe zugezogen, und er musste sich wieder nach einem anderen Beruf umsehen. Er wurde Werklehrer, auch er konnte sich durch ein Fernstudium qualifizieren. Diese Tätigkeit hat ihm von 1960 bis 1983 viel Freude gemacht, er konnte mit den Kindern bauen und sie lernten etwas, was sie im Leben gebrauchen konnten. 1963 hat er bei seiner schriftlichen Hausarbeit für das Staatsexamen (42 Seiten) folgenden Inhalt gewählt: Wie erziehe ich die Kinder im Fach Werken zur Liebe zur Arbeit. Neben seiner Arbeit als Fachlehrer für Werken war er noch 17 Jahre lang verantwortlich für die Berufsberatung in der Oberschule Neudorf. In diesen Jahren ist es nicht einmal vorgekommen, dass einem Schüler oder einer Schülerin kein Ausbildungsplatz vermittelt werden konnte. Als mein Mann kürzlich seinen 82. Geburtstag hatte, besuchte ihn der Pfarrer, da hörte ich ihn sagen: Meine schönsten Berufsjahre habe ich als Werklehrer erlebt! Das hat mich sehr berührt und nachdenklich gemacht, zumal ich des öfteren mit Lehrern und Lehrerinnen der heutigen Zeit spreche.

Die Wende, die im Herbst 1989 begann und uns mit dem Mauerfall am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit bescherte, erlebte unsere Familie mit gemischten Gefühlen. Heike, die nach ihrem Abitur zunächst ihren Forstarbeiter machte, dann vier Jahre an der Karl-Marx-Universität Leipzig Fachrichtung Journalistik studierte, ging nach zwei Jahren Praxis beim DDR-Rundfunk mit ihrem Mann für sieben Jahre nach Afrika als Korrespondentin. Sie erlebte nach der Wende zwei Kündigungen, konnte sich aber immer wieder einklagen und arbeitet jetzt als Redakteurin bei Deutschlandradio Berlin (im ehemaligen Feindsender Rias) - Helmut erlernte den Beruf eines Rinderzüchters, er qualifizierte sich zum Diplomlandwirt, wurde Leiter der Tierproduktion der LPG Neudorf. Ein Jahresauftrag führte ihn als Lehrausbilder nach Algerien. Er war Leiter des Fachorgans Landwirtschaft beim Rat des Kreises. Kündigung. Ein Jahr arbeitslos. Viele Bewerbungen vergeblich. Schließlich Umschulung und Studium in Chemnitz, dann als Bauingenieur/Bauleiter tätig, bis er sich selbständig machte. - Reinhard erlernte den Beruf Kupferschmied. In einem Aufsatz 1965 schreibt er zum Thema Berufswunsch: Ab 1. September beginnt ein neuer Lebensabschnitt für mich: Bei meinem Berufswunsch denke ich besonders an meinen Opa, der als Kupferschmied ein guter Fachmann war. Natürlich muss ich auch meinen Vater nennen, der ja auch in der Firma viele Jahre als Kupferschmied arbeitete. Als Kind war ich oft in der Werkstatt und habe zugeschaut, beim Schweißen z. B. durfte auch ich mit dem großen Hammer auf den Ambos schlagen. Im UTP und im ESP lernten wir schon die wichtigsten Grundbegriffe der Metallindustrie theoretisch und praktisch kennen und bereiten uns damit schon auf unseren zukünftigen Beruf vor. Darum möchte ich besonders in diesem Fach gute Zensuren. Zwanzig Jahre arbeitete er in seinem Beruf im G.W.S. Aus persönlichen Gründen wechselte er die Arbeit und arbeitete in einem Holzbetrieb bis 1995. Dann arbeitslos, er hangelt seitdem mit 50 Jahren über ABM-Stellen an das Rentenalter ran! Oder? An Wunder glauben wir nicht.

Zu den positiven Seiten nach der Wende zählten vor allem die vielen Reisen, die wir, mein Mann und ich, noch erleben durften (Bayern, Italien: Südtirol, Nordsee, Rom, Kreta). Aber auch unsere Kinder mit Familien reisen weit und oft und gerne. Ein Enkelsohn konnte sogar Australien kennenlernen, der andere war schon drei Mal in Afrika. Auch die sichtbaren Modernisierungen und Verschönerungen von Städten und Dörfern und das üppige Warenangebot zählen zu den positiven Bilanzen. Die andere Seite: die sozialen Kämpfe um Arbeit und Existenz, der Drogenmarkt für Jugendliche, der Einfluss der Presse und des Fernsehens mit ihren starken amerikanischen Tendenzen erzeugen bei der Jugend Gewaltbereitschaft, die sich in der erhöhten Kriminalität auswirkt. Darüber sorgen sich die älteren Menschen in den neuen Bundesländern besonders und verunsichert sie, weil sie aus eigener Erfahrung die beiden Systeme vergleichen können.

 


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